1994: Christian Philipp Müller, Tour de Suisse

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Christian Philipp Müller, Tour de Suisse, 1994. Fotografie: Eliane Laubscher.

Nicht mit dem Rennrad, sondern mit dem Auto tourten Michel Ritter und der Schweizer Künstler Christian Philipp Müller im Sommer 1994 quer durch die Schweiz. Wie rastlose Touristen erkundeten sie während zwei Wochen 60 Institutionen im ganzen Land, die mindestens einmal pro Jahr zeitgenössische Kunst ausstellten. Ihre Eindrücke hielten sie per Video fest. Sie führten Interviews mit Museumsverantwortlichen und liessen sie Fragebögen ausfüllen. Die gesammelten Daten und Eindrücke wurden in der Kunsthalle Friart präsentiert. Anschliessend reiste die Ausstellung weiter nach New York und Lüneburg, wo Müller sie an die vorgefundenen Bedingungen anpasste und weiterentwickelte. Hier zeigt sich das Prozesshafte von Müllers Werk und sein Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort, sei es mit einem Gebäude oder einer Kunstszene. 

Mit der Ausstellung Tour de Suisse wollte Müller die Schweizer Kunstszene sichtbar machen und die Beziehungen zwischen den Kunstinstitutionen aufzeigen. Diese künstlerische Praxis wird Kontext-Kunst genannt, weil sie die Bedeutung des Kontexts, der kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Entstehung von Kunst hervorhebt. Seit den 60er Jahren postulieren Vertreter dieser Praxis, dass ein Werk nicht losgelöst von seinem gesellschaftlichen Entstehungskontext betrachtet werden kann. In den 90er Jahren machten Künstler:innen, darunter auch Müller, den weit gefassten Kontext der Kunst zum Hauptgegenstand ihrer Werke. Indem Müller Spuren der materiellen und immateriellen Strukturen sammelte, also etwa Aufnahmen der besuchten Ausstellungsräume, Ideen der Museumsleitenden oder Kataloge, machte er die Schweizer Kunstszene für die Besucher:innen sichtbar. 

Dadurch legte er auch seine künstlerische Praxis offen, die an jene eines Ethnografen erinnert, der Feldforschung betreibt; eine weitere wichtige Komponente der 90er-Kunstpraxis. Der Kunsthistoriker Hal Foster bezeichnete diese Hinwendung von Künstler:innen zu ethnografischen Methoden als “ethnografische Wende”. Die Kunstschaffenden mutierten zu einer Art Pseudo-Ethnograf:innen; Müller studierte mit seinen Interviews und Fragebögen die Schweizer Kunstszene und anstatt die gesammelten Daten und Eindrücke wissenschaftlich zu analysieren, brachte er eine künstlerische Aussage hervor und verwies damit auf die “Unmöglichkeit, kulturelle Gegenwart objektiv zu präsentieren”.

Mit Müller, für den die Tour de Suisse seine erste Einzelausstellung in der Schweiz war, holte Friart einen Künstler nach Freiburg, der exemplarisch für eine erweiterte Kunstpraxis der 90er Jahre steht. Eine Kunstpraxis, bei der der Künstler als Forscher die Strukturen der zeitgenössischen Kunst freilegen wollte und dafür in engem Austausch mit dem jeweiligen Ort arbeitete.

Text in Zusammenarbeit mit Andrea Walker, veröffentlicht im Rahmen der Ausstellung Friart ist aus einem Vakuum heraus entstanden. Geist einer Kunsthalle, MAHF Museoscope, (27.08 - 17.10.2021).