1997: Die Ausstellung von Georges Adéagbo

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Umschlag von Georges Adéagbo an Michel Ritter

Und was wäre, wenn die Gegenwartskunst vor der modernen Kunst kommen würde? Was, wenn das Ende die Geburt bedeutete? Und die Kunst die Künstler:innen hervorbrächte? Georges Adéagbo artikuliert, dass “zuerst die Herkunft des Individuums gefunden, angeschaut und erkannt werden muss, bevor über das Individuum gesprochen werden kann”. Seit den beiden Ausstellungen von Jimmie Durham und David Hammons im Jahr 1993 nimmt die postkoloniale Frage in der zeitgenössischen Kunst in der Kunsthalle Friart einen immer wichtigeren Platz ein. Für Adéagbo ist die “Herkunft” ein überstrapazierter Begriff. Er kritisiert den westlichen Konsumismus, die folglichen Ungerechtigkeiten und deren Schnittmenge, die aus dem Kolonialismus-Diskurs hervorgegangen ist. Die meisten Werke stellt er am Ort der jeweiligen Ausstellung her, für die er Gegenstände sammelt, mitbringt und zusammenführt. Es sind Beobachtungen, wie die Menschen ständig Veränderungen in der Welt herbeiführen, sich aber weigern, die Konsequenzen zu tragen. Menschen und verschiedene Kulturen kommen zusammen, kombinieren sich neu und lösen sich wieder auf – wie Adéagbos Installationen und Akkumulationen von Gegenständen und die vorübergehenden Ausstellungsbesucher:innen.

Georges Adéagbo, der Archäologe des universellen Denkens, ist ein in Bénin geborener, afrikanischer Künstler, der sich selbst jedoch nicht als Künstler versteht. Er spricht von sich selbst in der dritten Person und davon, dass “dieser Georges” sich fragt, wie die Welt heute die Geschichte Afrikas betrachtet. Für seine Arbeit sammelt er Informationen, die uns Hinweise auf eine Antwort geben können. Die fragmentarischen Gegenstände seiner künstlerischen Installationen sind vielfältig, haben jedoch einen Bezug zur Geschichte Adéagbos und seiner Sensibilität. Er arrangiert Malereien, Bücher, CDs, beschriftete Kopien, Kleider, Säcke und dergleichen.

In seiner Ausstellung in der Kunsthalle Friart von 26. Januar bis 23. März 1997 präsentiert Adéagbo seine gefundenen und gesammelten Elemente. Der Künstler nutzt den Tag nach Aschermittwoch, an dem es üblich ist, das Haus von unnötigem Ballast zu befreien. Er sammelt Zeitungen wie “La Liberté” oder “Le Matin”, das Programm des Belluard Festivals, Plastiktüten, Zigarettenschachteln… Er vermischt seine Entdeckungen mit persönlichen Gegenständen wie Schriften über Benin. Eines der Hauptstücke seiner Ausstellung ist die traditionelle Tracht der Yoruba-Gemeinschaft, ein Kleidungsstück, das für Begräbniszeremonien bestimmt ist und Adéagbo der militärischen Montur der Schweiz gegenüber stellt, die zu anderen Zwecken verwendet wird.

Angetrieben von der Ausstellung Dialogues de Paix, die Adelina von Fürstenberg anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen organisierte, wurde Adéagbo 1999 als erster afrikanischer Künstler mit dem Grossen Preis der Jury der Biennale von Venedig ausgezeichnet, bevor er 2002 an der Documenta 11 in Kassel vertreten war. In seinem Werk kehren die Besucher:innen immer wieder zurück, um sich in eine andere Lage zu versetzen und über die Vergangenheit sowie die ständige Entwicklung und Veränderung, der die Welt ausgesetzt ist, nachzudenken: Was, wenn das Ende doch die Geburt bedeutet?

Text in Zusammenarbeit mit Tania Siegenthaler, veröffentlicht im Rahmen der Ausstellung Friart ist aus einem Vakuum heraus entstanden. Geist einer Kunsthalle, MAHF Museoscope, (27.08 - 17.10.2021).

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Artikel in der Zeitung Feuilleton, 11. März 1997