1993: Les Müller, un inventaire “à la Tinguely”

Les Müller. Un inventaire à la Tinguely image
Vorschlag von Jean Tinguely für eine Ausstellung “Les Müller, un inventaire “à la Tinguely”“, Friart 1993. Fotografie: Eliane Laubscher.

“Und das soll Kunst sein?”, wunderten sich die Freiburger Nachrichten über die Ausstellung Les Müller, die Objekte und Darbietungen von knapp 50 Persönlichkeiten mit dem Namen Müller aus Kunst, Wissenschaft und Sport vereinte. Und die Liberté meinte, die Ausstellung wäre besser aufgehoben in einem ethnografischen Museum als in einer Kunsthalle. Dies zeigt, wie ungewohnt die Arbeitsweise der damaligen Kunstszene für das Freiburger Publikum war. Die Kunstschaffenden der 90er interessierten sich nämlich zunehmend für ihr sozio-kulturelles Umfeld, das sie mit soziologisch und ethnografisch inspirierten Methoden erforschten.

Im Fall der Ausstellung Les Müller schlüpften die Kurator:innen in die Forscher:innenrolle: Sie machten sich auf die Suche nach Müllern, die Aussergewöhnliches geleistet hatten. Ausgehend vom Namen Müller entfalteten sie ein Panorama der Gesellschaft und verwandelten den Ausstellungsraum in ein «Musée de l’homme contemporain», wie es das Journal de Genève formulierte. Die Ausstellung als Dokumentation dieser Recherche war das eigentliche Kunstwerk, so Michel Ritter: “Cette exposition doit être abordée en tant qu’œuvre total, dans sa globalité, sans oublier les individus qui la composent”.

Fri Arts Recherche hatte jedoch nicht den Anspruch, objektiv zu sein. Vielmehr war sie eine Parodie der Wissenschaft mit ihrer Klassifizierung und ihrem Anspruch auf Objektivität, wie im Katalog augenzwinkernd angetönt wurde : “À la manière du statisticien qui choisit soigneusement les cibles de son sondage pour qu’il soit à la fois représentatif et arbitraire, l’organisateur de cette exposition se sert de ce NOM-outil pour faire son propre sondage en effectuant une coupe arbitraire dans la société helvétique”. Dadurch steht sie in der Tradition anderer institutionskritischer Werke wie etwa des Adlermuseums des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers. Dieser hatte Alltags- und Kunstobjekte mit Adlern ausgestellt. Damit wollte er die Funktion von Museen als “Richter” über das, was Kunst ist und was nicht, hinterfragen.

Doch warum ausgerechnet der Name Müller? Die Idee für die Ausstellung stammte von Jean Tinguely, der damit dem “Skandalkünstler” von Fri Art 1981, Josef Felix, und weiteren aussergewöhnlichen Müllern aus Kunst, Wissenschaft und Sport Anerkennung erweisen wollte. Denn Tinguely war der Meinung, dass jeder eine Künstler:in sei. Dieser erweiterte Kunstbegriff und die Vorstellung, dass Kunst nicht isoliert von der Gesellschaft, sondern Teil von ihr ist, setzte sich seit den 60er Jahren durch. Ausgehend von dieser Idee wurden Wissenschaft und Kunst in der Ausstellung Les Müller kritisch hinterfragt und aufgezeigt, dass Kunst eben nicht nur im Museum, sondern auch ausserhalb zu finden ist. Und dass sich die zeitgenössische Kunst nicht nur mit sich selbst, sondern mit der ganzen Gesellschaft beschäftigt, wie Friart schrieb: “L’option du Centre d’Art Contemporain cherche à circonscrire le dynamisme de la société dans laquelle nous vivons – l’art s’en nourrit et en est le miroir”.

Text in Zusammenarbeit mit Andrea Walker, veröffentlicht im Rahmen der Ausstellung Friart ist aus einem Vakuum heraus entstanden. Geist einer Kunsthalle, MAHF Museoscope, (27.08 - 17.10.2021).