Michel Ritter und die Kunst der 1990er Jahre in Friart

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Francis Baudevin, Adnreas Vetterli, René Walker devant Friart pour leur exposition en 1991. Photographie: Eliane Laubscher.

Dieser Text bespricht einerseits wie sich internationale künstlerische Tendenzen im Programm des ersten Jahrzehnts der Friart von 1991 bis 2002 unter der Direktion Michel Ritters manifestierten und liefert andererseits eine Zusammenfassung der Forschungsarbeiten, die im Rahmen eines Seminars über die Geschichte zeitgenössischer Kunst, im Frühlingssemester 2021 gemeinsam mit der Universität Fribourg, stattfanden. (1)

Im November 1990, nach zehn Jahren ohne festen Standort und jahrelangen Verhandlungen mit den Behörden, erhielt der Verein Friart schliesslich Räumlichkeiten sowie staatliche Unterstützung zur Realisierung von Ausstellungsprojekten. (2) Mit dem Bezug des Gebäudes in der Petites-Rames 22, wurde die Friart zur Kunsthalle und konnte unter der Direktion von Michel Ritter zwischen 1991 und 2002 eine unverkennbare Position in der schweizer Kunstlandschaft einnehmen. (3) So wurde Friarts Ausstellungsprogramm im Jahr 2000 von unzähligen Gleichgesinnten und Fachleuten sowie anderen Institutionen als eines der interessantesten, wenn nicht sogar als das interessanteste gepriesen. Die Friart war ein Raum wo Entscheidungen nie auf Markttrends basierten, mit riskanten und gewagten Formaten experimentiert und erste Ausstellungen junger Künstler:innen gezeigt wurden. (4) In einer Stadt an der Schwelle zweier Sprachräume und im nationalen urbanen Geflecht von zweitrangiger Bedeutung, entstand so ein alternatives Narrativ. Laut denjenigen, die an diesem Abenteuer teilgenommen haben, ist die Handschrift der Friart stets von einer menschlichen Überkompensation geprägt, die den Mangel an Ressourcen oder ihren peripheren Standort ausgleichte: Dank sei dem Kurator Michel Ritter, der den Künstler:innen immer am nächsten stand (Abbildung 1 und 2). (5)

In den 1990er Jahren begleitete die Kunsthalle Friart den Werdegang zahlreicher Künstler:innen, die sich nahtlos in eine inzwischen kanonische Geschichte einfügen. Diese entwickelte sich entlang der Kriterien globalisierter und kontextueller Kunst, des Postkolonialismus, der relational aesthetics und der technologischen Entwicklung. Irgendetwas war bei der Verbindung des neuen, ehrgeizigen Kunstraums mit diesen Tendenzen ideal. Beiden gemeinsam war die Betonung der Erfahrungsdimension, die die Kunst als Realitätserfassung gegen den Objektfetischismus ausspielte. Die Ausstellungen in der Friart waren als Begegnung mit den Besucher:innen konzipiert, wobei das “Dispositiv der Präsentation das Wesentliche des Werks” ausmachte. (6) Die künstlerischen Methoden wurden von kulturwissenschaften Theorien abgeleitet und fanden so Anklang in Kreisen, die sich nicht an akademische Vorgaben hielten. Das Forschungslexikon und das Experimentieren blühte in der Kunsthalle auf, ohne dass sie sich mit theoretischen Abhandlungen begnügt hätte, denn die Friart war mehr als blosser Rezeptionssort der Praxen. Nach der alternativen Periode der 1980er Jahre ohne festen Standort, trug die Kunsthalle zur Entwicklung einer zeitgenössischen Kunst, die sich als Instrument zur Reflexion der Welt profilierte – eine Zone der Möglichkeiten, deren Horizont offen schien. Doch zeitgenössische Kunst war damals noch nicht in das kulturelle Ökosystem der Kleinstädte integriert und so musste die Friart ihr Publikum und ihre Rechtfertigung für sich gewinnen und den experimentellen Bereich der Kultur in der Tat beanspruchen:

“Unser Problem bei der Betrachtung der verschiedenen aktuellen Kunstpraktiken rührt vor allem daher, dass wir Schwierigkeiten haben, sie zu erfassen, obwohl die Kunst immer alltäglicher wird, indem sie sich auf das Alltagsleben bezieht und Strategien aus anderen Disziplinen (Soziologie, Wissenschaft, Mode, Musik usw.) anwendet.” (7)


SCHWEIZER NETZWERK / INTERNATIONALES NETZWERK

“Museen und Galerien sind keine Orte der Ruhe, man muss die Informationen, die sich draußen, auf der anderen Seite der Tür befinden, in sie hineintragen.” (8)

Nach der Ausstellung von Jacques Thévoz, stürzte sich Michel Ritter 1991 in seinen ersten Programmjahren, die teilweise auf Beziehungen aufbauten, die während des Umherziehens des vergangenen Jahrzehnts entstanden waren. So hat er Künstler:innen und Freund:innen der schweizer Szene wie Bruno Baeriswyl (1991), Ian Anüll (1992) und Roman Signer (1992) eingeladen. Dabei wurden erste institutionelle Präsentationen mit schweizer Künstler:innen, die einen besonders wichtigen Schritt einer Karriere ausmachten, zum Markenzeichen der Friart. Zu diesen zählen Ausstellungen mit Francis Baudevin (1991), Raoul Marek (1991) und Alain Huck (1993), die bedeutende erste Ausstellung in der Schweiz von Thomas Hirschhorn Très grand buffet (1995) sowie Valentin Carrons Sweet Revolution (2002) (Abbildung 3). (9)

Die 1990er Jahre waren in der Schweiz von einer Bewegung zur öffentlichen Anerkennung zeitgenössischer Kunst geprägt. (10) In einer globalisierten Version manifestierte sich dieses kulturelle Werden der Kunst in der Entwicklung eines internationalen Kalenders von Biennalen und Messen. 1993 wurden in Zusammenarbeit mit dem Performance-Festival Belluard Bollwerk International zwei Künstler, die an der Documenta IX von 1992 teilgenommen hatten, in der Friart gezeigt. David Hammons, ein wichtiger Schwarzer Künstler, kam für eine Woche nach Fribourg, um vor Ort Werke zu schaffen. Der Künstler Jimmie Durham war zwar nicht vor Ort, realisierte jedoch eine Zeichnungsserie, die mit einem Augenzwinkern mit der Sprache und Topografie der Schweiz spielten und seine Werke in der Ausstellung begleiteten (Abbildung 4).

BEFREUNDETE GALERIEN: PAT HEARN, AMERICAN FINE ARTS, CHRISTIAN NAGEL

Ein Netzwerk aufstrebender Galerien konzentrierte sich auf eine immer geringe Anzahl Kunstmetropolen. Die Kommunikation erfolgte via Fax, Abzüge von Werkfotografien wurden als Portfolios in Umlauf gebracht und Informationen über per Post verschickte Einladungskarten und Fachzeitschriften verbreitet. (11) Man reiste, um andere Eröffnungen, Messen und Ausstellungen zu besuchen und der Künstler Michel Ritter, der zum Kurator wurde, war mit Persönlichkeiten im Kontakt, die an der Wiederbelebung einer Kunstszene, die im gentrifizierten Teil Lower Manhattans (Pat Hearn und American Fine Arts (Colin de Land)) und in Köln, insbesondere der Galerie Nagel, beteiligt waren. Diese Räume unterstützten damals dieselbe Gruppe von Künstler:innen und trugen so zu einer Interessengemeinschaft und einem Dialog über amerikanische Institutionskritik und europäische kontextuelle Kunst bei.

Der schweizer Künstler Christian Philipp Müller wurde von der Galerie Nagel vertreten und zeigte in seiner Ausstellung Tour de Suisse (1994) in der Friart die Ergebnisse seiner gefilmten Umfrage, die auf einer Reihe von Besuchen bei Direktor:innen schweizer Kunstinstitutionen basierten (Abbildung 5). Der Fragebogen war von der Kunstsoziologie des Theoretikers Ulf Wuggenig inspiriert und stellt ein besonders markantes Beispiel der kontextuellen Kunst dar. (12) Es entstand die Figur der Künstler:innen als Forscher:innen, welche die Sozialwissenschaften für sich umschrieben und/oder sich auf den poststrukturalistischen Diskurs oder die Kulturwissenschaften stützen. Der amerikanische Künstler Mark Dion zeigte seine Arbeiten sowohl bei Nagel in Köln als auch in der American Fine Arts Gallery in New York und wurde mehrmals von der Friart eingeladen. In einer Gruppenausstellung im Jahr 1992, arbeitete er mit dem Naturhistorischen Museum zusammen, während er selbst die Flora und Fauna Brasiliens erforschte. Anlässlich seiner Einzelausstellung Unseen Fribourg (1995) sammelt er mehrere Kubikmeter Erde an zwei verschiedenen Orten der Stadt, um einmal wirbellose Lebewesen und das andere Mal Fragmente von Trümmern der Zivilisation zu extrahieren, zu dokumentieren und auszustellen. (13) Die Dramatisierung der Prozesse der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung vermischte bewusst die Disziplinen der Naturwissenschaften mit der Archäologie, um zu verdeutlichen, dass Wissen stets aus einer bestimmten Perspektive formuliert wird und nie objektiv ist.

1996 lud Michel Ritter die von derselben Galerie vertretene amerikanische Künstlerin Renée Green ein. Sie schlug dem Kurator vor, sich durch einen Briefwechsel besser kennen zu lernen, eine Praxis, die der derzeitigen Beschleunigung der Kommunikationstechnologien entgegengesetzt war. Diese Rückkehr zur Authentizität ermöglichte eine bessere Dekonstruktion ihres Prinzips und ihrer Überzeugungen anhand eines Objekts, das die Fantasie von der Einzigartigkeit des Ortes repräsentierte: der Postkarte (Abbildung 6). In einem temporären Kino im ersten Stock von Friart zeigte sie Filme von schweizer Regisseur:innen, die die USA oder das Bild, das sie sich von ihr machten, erforschten. In Greens Werk spielt die Reflexion medialer Dispositive, die sich immer mit einer anthropologischen Reflexion über Kultur und die Konstruktion von Identität überschneidet.

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Renée Green, Flow, Friart 1996. Photographie: Eliane Laubscher

NEUE TECHNOLOGIEN / NEUE GENERATION ?

Die Reflexion über die neuen Medien und ihren Platz in der Kunst zieht sich durch die 1990er Jahre und das Programm von Friart. Für die Ausstellung Flow (1996) erstellte Renée Green eine Internetseite, Dominique Gonzalez Foerster benutzte für Zone de Tournage (1996) Live-Kameraübertragungen und stellte eine CD her. Julia Scher überwachte Fribourg in Fribourg sous surveillance (1996), indem sie an strategischen Punkten der Stadt Kameras installiert hatte und diese Bilder auf Bildschirme in der Friart übertragen hat. Ende der 1990er Jahre entstanden allmählich neue Impulse, die die in Frankreich bereits diskutierten künstlerischen Tendenzen widerspiegeln. Eine neue Generation von Künstler:innen schlug eine Poesie des Alltäglichen vor, die unbekümmert und hemmungslos Untersuchungen des ausufernden Klimas des Massenkonsums, die Allgegenwart der Mode bei der Entwicklung einer Ästhetik des Daseins, den Einfluss des virtuellen Universums und das Zukunftsszenario des Kapitalismus vermischte. Diese Ästhetik wurde als relational bezeichnet. (14) Im zehnten Jahr der Friart, im Jahr 2002, war das Programm von einer neuen Generation geprägt: Olivier Zahm und seine Ausstellung Fashion Video (1998), Jens Haaning mit Super Discount (1998) und Surasi Kusolwong mit Everything 2 Francs (2001) fanden alle in der Friart statt. Das Programm zum 10-jährigen Jubiläum der Friart im Jahr 2000 war einer neuen Generation von Ausstellungsmacher:innen gewidmet. Die relational aesthetic wurde dabei vor allem von Olivier Zahm, Nicolas Bourriaud und Hans Ulrich Obrist vertreten. Ergänzt wurde das Programm Gäste wie die schweizer Kurator:innen Véronique Bacchetta, Lionel Bovier und Esther Eppstein sowie durch die Ausstellung des Schweizer Kunstpreis 2000.

Seit ihren Anfängen hat die Kunsthalle fortwährend Veranstaltungen organisiert, um ihr Programm zu beleben und hat dabei stets andere Künste wie Architektur, Mode, elektronische und experimentelle Musik, oder Film integriert. TECHNOCULTURE [Computer World] (1998) involvierte junge Leute, die sich mit Subkulturen der elektronischen Musik identifizieren. Dem Ideal getreu, dorthin zu gehen wo die Dinge entstehen, hat Michel Ritter auf lokale Kollektive zurückgegriffen, die am Leben der Kunsthalle als Techniker:innen teilgenommen haben und Ausstellungseröffnungspartys veranstaltet haben und ihrerseits vom Trend der relational aesthetics beeinflusst waren. Ich denke hier an das DJ-Kollektiv DTP und PAC, die auch meine ersten Erinnerungen an etwas sind, das einmal zeitgenössische Kunst sein sollte: frühmorgens auf dem Weg vom Bahnhof zum Collège Saint-Michel einen Kaffee und ein Croissant zu bekommen, auf dem Weg zu einem neuen Tag schulischer Arbeit.

Text: Nicolas Brulhart
Übersetzung: Michèle Graf & Selina Grüter

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Dominique Gonzalez-Foerster, Zone de tournage, Friart, 1996. Photographie: Eliane Laubscher

(1) Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Julia Gelshorn und den Studierenden, die sich der besonderen Aufgabe angenommen haben, unser Wissen über die reiche Geschichte der Friart durch Besuche des lückenhaften Archivs und dessen Einbettung in eine globale, zeitgenössische Kunstgeschichte, zu erweitern und verbreiten.

(2) Der erste Unterstützungsantrag um Räumlichkeiten an die Stadt reicht ins Jahr 1982 zurück. Einen positiven Entscheid für die Bereitstellung eines Raumes, der vorgängigen Notschlafstelle auf der Petites-Rames 22 im Quartier Neuveville, erfolgte im Jahr 1987. Die Räumlichkeiten wurden damals von Fribourgs Billardclub und dem Verein der Amateurmaler:innen genutzt und wurden im Herbst 1990 in Ausstellungsräume umgebaut, die am 25. November 1990 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

(3) Das französische Wort “Centre d’art” verweist auf die seit 1980 staatlich subventionierten Kunsträume. Es ist ein jüngeres Konzept, als jenes der “Kunsthalle”, das Deutschlands 19. Jahrhundert entstammt. Die Tatsache, dass die Friart an der Schnittstelle der beiden Sprachregionen und ihren jeweiligen kulturellen Einflüssen liegt, erklärt dass die Institution seit ihren Anfängen beide Begriffe verwendet, ohne unbedingt die jeweilige Genealogie zu berücksichtigen.

(4) Diese Punkte fassen die verschiedenen Positionen der Expert:innen zusammen, die für die Buchprüfung im Jahr 2000 zusammenkamen, die aufgrund der Relevanz und der Unterfinanzierung der Kunsthalle stattfand.

(5) So schlägt Michel Ritter in der Einleitung zum Katalog der Friart 1992 ein Programm vor, das er als “so nah wie möglich an meiner Sensibilität” beschreibt. In der Einleitung von 1994 schreibt er, er arbeite eher “intuitiv als nach Bezugnahme auf Theorien, die der Situation nicht angemessen oder noch nicht definiert sind”.

(6) Ritter, Michel (1996), “Einführung”, Katalog Friart, Fribourg, S. 5.

(7) Ritter Michel (1991), “Einführung”, Katalog Friart, Fribourg, S. 4.

(8) Ritter Michel (1993), “Einführung” Katalog Friart, Fribourg, S. 4.

(9) Die Künstlerliste war ausschliesslich männlich. Sie war die Abbildung einer problematischen Realität, die in kulturellen Institutionen damals verbreitet war. Im Jahr 1993 betitelt Michel Ritter sein Unbehagen in der Einführung des Katalogs, der die Aktivitäten des Jahres zusammengefasste. Im Jahr 1996 soll sich das Programm der Friart ausschliesslich aus Frauen zusammensetzen.

(10) Der gesellschaftliche Auftrag der europäischen Institutionen wurde daher mit dem Begriff des New Institutionalism bezeichnet. Siehe: Kolb, Lucie, Flückiger, Gabriel (2013), OnCurating, Dezember 2013.

(11) An dieser Stelle ist die Wichtigkeit der 1991 gegründeten Zeitschrift Frieze für Grossbritanien zu erwähnen, die 1990 gegründete Texte zur Kunst für Deutschland und die 1992 gegründeten Purple und Documents für Frankreich.

(12) Bismarck, Beatrice (1996), Games, fights, collaborations : das Spiel von Grenze und Überschreitung: Kunst und Cultural Studies in den 90er Jahren, Ostfildern-Ruit.

(13) A Meter of Meadow zeigte im Erdgeschoss der Friart eine 1m dicke Erdschicht, die von der Lorette abgetragen wurde. History Trash Dig zeigte die Ausgrabungen einer Müllhalde aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in Grabensall, im 1. Obergeschoss der Friart.

(14) Siehe: Bourriaud, Nicolas (1998), Esthétique relationnelle, Dijon.